Die blaue Brille

Aufwachen, Kaffee, bei Facebook einloggen. Wem dieses morgendliche Ritual vertraut ist, hat sich bestimmt schon mal die Frage gestellt woher dieser ständige Heißhunger nach dem Profil-Check eigentlich kommt. Hier ein etwas überspitzter aber dennoch ernst gemeinter Erklärungsversuch.

Der Trick zur Rekrutierung von derzeit etwa 1,1 Milliarden Usern ist eigentlich ganz einfach: das Facebook-Profil ist die gepimpte, kontrollierte Version von uns selbst. Es präsentiert sich so wie wir am liebsten sein möchten, denn Pixel sind geduldig. Es erzählt von spannenden Reisen, spaßigen Nächten, niedlichen Kindern, attraktiven Partnern und süßen Haustieren. Der öde Alltag wird außen vor gelassen und existiert somit nicht. Es erlaubt uns durch langes Nachdenken vermeintlich schlagfertig auf Kommentare zu reagieren. Es zeigt unseren „Freunden“, dass wir interessant, wertvoll und einzigartig sind. Auf Facebook dürfen wir uns sehen, wie wir uns gerne sehen wollen, die sprichwörtliche rosa Brille ist mittlerweile blau.

Einzig und allein durch die Wahrnehmung anderer haben sich unsere Facebook-Profile zu eigenständigen Persönlichkeiten entwickelt. Glaubt Ihr nicht? Dann testet Euch mal selbst: Wenn Ihr an den Eure Freunde oder Bekannte denkt, was seht Ihr dann vor Eurem geistigen Auge? Das letzte Treffen in der Kneipe oder das Profilbild? Ganz zu schweigen von Facebook-Freunden, denen Ihr physisch noch nie begegnet seid. Unmerklich ist eine schöne neue Welt entstanden, in der wir fortwährend Selbstzensur betreiben, aber das nehmen wir gerne in Kauf, denn Facebook hält – ganz anders als die Realität – jede Menge positives Feedback für uns bereit. Für manch einen ist diese Pseudo-Welt längst wichtiger als das richtige Leben. Partys kommen zustande, um sie in Echtzeit zu dokumentieren. Jedes kleine Alltags-Detail wird positiv aufbereitet und gepostet, stets in der Hoffnung auf nette Kommentare und vor allem viele Likes. Facebook funktioniert genau wie eine Droge: Positives Feedback löst ein Glücksgefühl in uns aus, das wir fortan immer wieder möchten. Für Likes und Liebesbekundungen von fast Fremden nehmen wir sogar gerne in Kauf, dass der Dealer die Nutzungsbedingungen fortwährend zu seinen Gunsten ändert.

Wie überall, wo sich eine Art Gesellschaft mit eigenen Gesetzmäßigkeiten entwickelt, darf auch eine gemeinsame Währung nicht fehlen und bei Facebook heißt sie „Gefällt mir“. Je mehr Likes jemand sammelt, desto beliebter ist er. Und genau das ist es schließlich, worum es geht: „Seht her, die Leute mögen, was ich poste, also mögen sie MICH!“. Am Wichtigsten ist natürlich das Ergattern möglichst vieler Profilbild-Likes, denn sie sagen. „Ich bin beliebt und vor allem SCHÖN!!!“. Also werden die Gefällt-Mirs fleißig getauscht: gibst du mir deins, geb ich dir meins. Auf diese Weise kann der User sich vor dem Horror bewahren, dass niemand liked und alle das sehen.

Der Wunsch nach Liebe und Anerkennung gehört zur menschlichen Natur, daran gibt es rein gar nichts auszusetzen. Doch bei Facebook pervertiert diese Sehnsucht sich selbst. Natürlich haben die Macher des Netzwerkes ihren Beitrag zur blauen Brille geleistet, etwa durch den Gefällt-Mir-Button oder die Bezeichnung „Freund“ für jeden noch so fremden Kontakt. Dennoch: die Inhalte bestimmt jeder einzelne Nutzer des Netzwerkes. Es wäre also zu einfach, Zuckerberg & Co. die Schuld in die Schuhe zu schieben. Vielmehr scheint Facebook nichts anderes als ein Zerrspiegel unserer „realen“ Gesellschaft zu sein, in der wir stets schön, interessant, witzig, erfolgreich und gut gelaunt sein müssen – aber nicht können. Wenn wir schon alle Loser sein müssen, zumindest unsere Profile sind perfekt.